Islam

Globaler Djihad
Alexej Malashenko
Carnegie-Zentrum Moskau

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Viele meinen, dass das Problem des Militärkonfliktes in Tschetschenien in Zusammenhang mit dem Streben des tschetschenischen Volkes nach einem islamischen Staat entstanden ist. Aber wie stark ist der Islam in Tschetschenien? Wie sehr stützt sich das Streben nach Unabhängigkeit auf religiöse Unduldsamkeit und wie real ist die Vereinigung der muslimischen Staaten zu einem militär-terroristischen Bündnis gegen Russland? Hierzu äußert sich der stellvertretende Vorsitzende des wissenschaftlichen Rates des Moskauer Carnegie-Zentrums, Alexej Malashenko.

Gibt es eine nationale Besonderheit bei der tschetschenischen Version des Islams?

Die Islamisierung Tschetscheniens begann vor sehr langer Zeit, im zwölften bis dreizehnten Jahrhundert, sie war jedoch sehr oberflächlich. Die tatsächliche Islamisierung Tschetscheniens ist mit Scheich Mansur verbunden - am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Scheich Mansur hat die Tschetschenen energisch islamisiert, ganze Dörfer wurden zerstört, die sich weigerten, den Islam anzunehmen. Ich denke, man kann seit Ende des achtzehnten, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts davon sprechen, dass Tschetschenien islamisiert ist, wenn auch auf sehr spezifische Art.

Die Besonderheit besteht in der Bedeutung der Berg-, und Ethnischen Traditionen, in der offenbaren Priorität des Adats, d. h. die Stellung der Gesamtheit der volkseigenen Bräuche und Traditionen über das Schariat (islamisches Recht), was man in der Historiographie zuweilen als “unsichere Moslems” bezeichnet. Die Schariatgerichte hatten in Tschetschenien nie einen besonderen Einfluss, es gab sie praktisch nicht. Dieser Zustand, als ob es von Alters her so war, war als Indifferenz der Tschetschenen zum Islam im ganzen Nordkaukasus bekannt. Auf jeden Fall, vergleicht man Tschetschenien mit Dagestan, hat die islamische Komponente in Dagestan weitaus größere Bedeutung und Einfluss und bestimmt in vielem die Kultur und die ethnischen Traditionen.

Eine weitere Besonderheit der tschetschenischen Version des Islams ist das Fehlen einflussreicher geistiger Führerpersönlichkeiten, weil in Tschetschenien, wie wohl nirgends im Kaukasus, sich alles nach den Bergtraditionen richtete und eigentlich nicht nach dem Islam. Es gab dort kein System der islamischen Bildung wie in Dagestan, es gab dort nicht eine solche Anzahl von Moscheen und nicht so viele einflussreiche Imams. Deshalb hat sich die zweite Welle der Islamisierung Tschetscheniens, die erst jetzt, in den 90er Jahren, einsetzte, als ziemlich unerwartet erwiesen.

Worin liegt der Grund der Islamisierung des tschetschenischen Konfliktes?

Ich würde nicht von einer Islamisierung des Konfliktes sprechen, sondern davon, dass es irgendeine islamische Komponente gibt, die höchst widersprüchlich ist. Die Tschetschenen sind sozusagen nicht die besten Moslems, was überall im Nordkaukasus und in der arabischen Welt bekannt ist. Die Araber sagen offen, dass die Tschetschenen schlechte Moslems sind. Dudaevs Ziel war von Anfang an die Bildung eines weltlichen demokratischen Staates. Später fing der Krieg an, und natürlich, wie auch in jeder anderen muslimischen Gesellschaft, erhält jeder beliebige Widerstand Züge des Djihads. Das beobachten wir in der ganzen Welt, da ist Tschetschenien keine Ausnahme. Aber ich würde nicht sagen, dass der Djihad zur Basis der Islamisierung wurde.

Meiner Meinung nach wurde die Idee der Islamisierung, die Idee der Schaffung eines islamischen Staates in Tschetschenien, besonders die Schaffung eines gemeinsamen Kalifats mit Dagestan in den 90er Jahren, in vielem von außen hereingetragen. Es ist ein äußerer Faktor. Mit “äußerem Faktor” meine ich nicht Saudi-Arabien, sondern Dagestan. Dort, wo der islamische Radikalismus, obwohl eine Enklave, stärker, das heißt ausreichend stark und einflussreich war, dort tauchten auch die entsprechenden Theologen auf.

Sowohl im Kaukasus, als auch in Russland gab es Dutzende islamischer Organisationen, in den 90er Jahre wirkten sie wo auch immer und wie auch immer sie konnten. Interessant ist, dass trotz des gewaltigen Registers dieser Organisationen, ihr Einfluss auf die russischen Moslems, auf Tataren und Baschkiren, sehr beschränkt war. Sehr gut hat sich unsere Geistlichkeit gehalten, vor allem die tatarische, indem sie sich streng dagegen gewehrt hat, dass irgendwelche anderen Maschhabe (Anhänger einer der vier sunnitischen Rechtsschulen) und mit ihnen irgendwelche Ideen eindringen, die den Traditionen des tatarischen Islams nicht entsprechen.

Außerdem wurde in erster Linie von den Tataren die Idee des Euroislams hervorgebracht, gemäß „Ihr versucht uns den Fundamentalismus aufzupfropfen, aber wir, die russischen Moslems, haben bereits den Euroislam!”. Das ist eine Idee des modernen Islams, der der modernen Wirklichkeit gerecht wird. Ich kenne Leute, die über diese Idee einfach lachen, nichtsdestoweniger ist es eine reale und bedeutende Idee.

Was den Kaukasus betrifft, so findet dort der Wettstreit statt zwischen dem traditionellen Islam (dem Islam der Brüderschaften) und dem radikalen Islam, der dort jetzt aufgetaucht ist. Ich sehe jedenfalls vorerst keine Alternative zum Fundamentalismus im Sinne eines modernen Islams, eines Euroislams.

Und den Fundamentalismus verkörpern sehr verschiedene Organisationen: sowohl rein wohltätige als auch politische. Im Islam ist die Politik nicht von der Religion zu trennen, ebenso wie die Wohltätigkeit. Diese Organisationen tun sehr viel, besonders im Nordkaukasus. Zum Beispiel halfen sie den Radikalen beim Aufbau von lokalen radikal-islamischen Massenmedien, es gab sogar einen Fernsehsender und eine Rundfunkstation. Außerdem schickten sie ihre Emissäre in die Moscheen, schufen Zirkel für das Studium des Islams und unterstützten einige islamische Bildungseinrichtungen. Dies ist offensichtlich. Um sagen zu können, dass sie auch Geld für den Kauf von Waffen gaben, müsste man Zeuge gewesen sein. Aber zweifellos wurde ein gewisser Teil auch dafür verwendet. In welcher Höhe, ist eine andere Frage. Ich denke, die Mehrheit des Geldes dafür kommt aus Russland selbst, möglicherweise von der Diaspora oder von islamischen Banken. Es gibt ja auch Bojewiki, die selbst Geschäfte machen.

Trotzdem - ist die Finanzierung der islamischen Radikalen grundsätzlich eine Initiative von Privatpersonen oder gibt es Länder, bei denen das, wenn auch nicht öffentlich, doch aber staatliche Politik ist?

Das kann ich am Beispiel Saudi-Arabiens erklären. Der Staat gibt nichts. Aber es gibt Organisationen, die unter seiner Schirmherrschaft stehen oder von den Mitgliedern der königlichen Familie geleitet werden. Formell sind sie unabhängig vom Staat, tatsächlich sind sie mit ihm verbunden. Die Frage ist, ob man jene oder andere Organisationen staatlich oder unabhängig sehen soll. Außer Saudi-Arabien gibt es noch Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, vielleicht Ägypten, die Türkei und in geringerem Maße Pakistan. Aber ich wiederhole, es sind nicht die Staaten, nicht die Machtorgane, sondern irgendwelche islamische Organisationen, die sich in anderen Ländern stationieren. Die „Moslembrüder“, die sich in Ägypten befinden, sind kein staatliches Büro, aber das Geld kommt von dort. Es kann der Iran sein, aber die Iraner selbst lehnen das strengstens ab. Sie wollen nicht die Beziehungen zu Rußland belasten. Nach einigen Angaben gibt es einen gewissen Geldfluss von dort aus, obwohl sie Schiiten sind. Hier jemanden zu überführen, ist unmöglich. Außerdem existieren sehr viele falsche Gerüchte zu diesem Thema.

In wieweit wird der tschetschenische Konflikt den ideologischen Tendenzen der islamischen Welt zugeschrieben?

So wie auch im Falle Palästinas oder des Iraks. Weil dieser Konflikt in der moslemischen Welt als Konflikt zwischen Moslems und Nichtmoslems betrachtet wird. Es ist eine populäre Idee unter den Radikalen, übrigens auch unter einigen Tschetschenen, die in den Bergen kämpfen, dass dieser Konflikt ein Konflikt der Zivilisationen ist.

Das heißt, dass die Konzeption des Zusammenstoßes der Zivilisationen zum vorliegenden Fall vollkommen verwendbar ist?

Ich denke nicht. Allerdings hat sich der Mechanismus ihrer Inkorporation in diese Ideologie des Krieges schon in Gang gesetzt. Übrigens haben die russischen Massenmedien bei der Popularisierung einer solchen Interpretation des tschetschenischen Konfliktes eine nicht geringe Rolle gespielt. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie im ersten Tschetschenienkrieg fast jeder Journalist betonte, dass dies ein Krieg der Zivilisationen sei. Obwohl das im ersten Krieg vollkommen anderes war. Aber trotz allem ist diese Idee populär.

Ist nach Ihrer Ansicht das Projekt der Konstruktion eines islamischen Staates in Tschetschenien gescheitert?

Vollständig. Das letzte Mal klangen diese Ideen im Kontext eines islamo-traibalistischen Staates an. Traibalismus meint das Fehlen einer einheitlichen nationalen Zugehörigkeit anstelle der Aufteilung auf Familienclans, die im Inneren der noch nicht zu Ende formierten Nation den Kampf um den Vorrang in der Hierarchie mit größerer Härte führen, als mit dem äußeren Feind. So etwas kann überhaupt nicht sein, umso weniger, als der Islam gegen den Traibalismus auftritt. Das Projekt der Konstruktion eines islamischen Staates ist vollständig gescheitert, aber das Problem ist, dass der Kampf dafür ständig weiter geführt wird.

Ein ähnliches Projekt ist prinzipiell unmöglich. Rein formell kann man alles Mögliche erklären. Man kann 300 Menschen sammeln und behaupten, dies sei ein islamischer Staat. Man kann aus diesem Anlass irgendein Schild aufhängen und anerkannt werden, zum Beispiel als Die türkische Republik Zypern. So etwas gab es schon, als sie (die Tschetschenische Republik Itschkeria) von den Taliban, von derselben Türkischen Republik Zypern, von Bosnien und noch irgendjemandem anerkannt wurden. Aber es ist unmöglich. Es ist jene Utopie, für die ein ewiger Kampf geführt wird, mal stärker, mal schwächer.

Und das Beispiel Iran halten Sie nicht für korrekt?

Aus zwei Gründen nicht. Erstens würde ich nicht sagen, dass der Iran ein islamischer Staat ist, dort haben wir einen quasiislamischen Staat. Es gab die islamische Revolution, die war real. Aber dass das ein islamische Staat sei, ist übertrieben. Zweitens, wenn man Tschetschenien mit ihm vergleicht, so sind das unvergleichbare Größen, selbst vom Gesichtspunkt des Islams aus. Im Iran gibt es eine sehr starke islamische Tradition, dazu eine spezifische Tradition, die auf die Schaffung eines Systems der Staatsführung unter dem Vorrang religiöser Aspekte gerichtet ist, des Systems einer wirklichen islamischen Verwaltung. In Tschetschenien gab es das alles nicht, und ich bin davon überzeugt, dass es das niemals geben wird.

Ist die muslimische Welt in der Einschätzung des tschetschenischen Konfliktes einheitlich?

Wir wissen gut, dass jene Araber, die am tschetschenischen Krieg teilnahmen, nicht besonders populär waren, nicht einmal Chattab, der schon wegen seiner langen Haare nicht besonders beliebt war. Die Tschetschenen beklagten sich darüber, dass sich die Araber jede gewonnene Schlacht gegen die Föderalen zuschrieben, aber wenn sie verloren war, dann schoben sie die Schuld auf die Tschetschenen. Wir wissen, dass die Araber, die in Tschetschenien waren, die Tschetschenen als Moslems geringschätzig betrachteten. Es gibt zahlreiche Äußerungen Maskhadovs und Bassaevs, dass sie eine wirksamere islamische Solidarität erwarteten. Es existiert eine Zusammenarbeit zwischen bestimmten Organisationen, zwischen den Separatisten und den islamischen Radikalen im Nordkaukasus. Doch beide Seiten erwarteten mehr voneinander. Das Element einer gewissen gegenseitigen Enttäuschung ist zweifellos vorhanden.

Welche Stelle nimmt Tschetschenien in der modernen moslemischen Welt ein? Ist das eine Peripherie, die niemanden besonderes interessiert, außer die abgesonderten radikalen Kreise?

Ich denke nicht. Ihre Bedeutung steigt mit der Welle terroristischer Anschläge. Damit lenken sie die Aufmerksamkeit auf sich, sowohl negativ, als auch positiv. Nach Beslan sind die Beziehungen zu Tschetschenien in der moslemischen Welt insgesamt und unter den regierenden Eliten schwer einzuschätzen, aber ich denke, sie sind eher zurückhaltend. Weil jede Art solcher Terroranschläge auf den Islam und alle Moslems zurückschlägt. Dafür zählen auf die Radikalen im Nordkaukasus alle die, die wir internationale Terroristen nennen. Sie könnten ein Interesse daran haben, Kämpfer und Terroristen, die in Tschetschenien Erfahrung gesammelt haben, in anderen Regionen einzusetzen.

Kann man irgendwelche quantitativen Einschätzungen über die Anwesenheit des internationalen Terrorismus in Tschetschenien geben?

Ich denke, das ist unmöglich. Die Rede ist von 200 bis 300 Arabern.

Keine sehr bedeutende Zahl.

Erstens ist die Zahl relativ. Zweitens sind es genügend für einen Partisanenkrieg auf einem solch kleinen Territorium. Drittens kann sich die Zahl mit der Zeit ändern - aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche besteht darin, dass die Araber eine bedeutende Rolle gespielt haben, als Lager für die Vorbereitung der Kämpfer geschaffen wurden und bei der Indoktrination Tschetscheniens mit dem radikalen Islam. Auf dem Schlachtfeld sind sie weniger entscheidend.

Was bedeuten die Prozesse der islamischen Wiedergeburt, der Politisierung des Islams, der Radikalisierung für Russland in langfristiger Perspektive? Wie soll die staatliche Politik darauf reagieren?

Ich kann nicht für die Politik des Staates antworten. Ich kann nur ehrlich sagen, dass ich diese Politik nicht verstehe. Und über irgendein abstraktes Modell zu sprechen, ist nicht seriös. Um darüber zu sprechen, muss man wissen, was die an der Macht sitzenden Leute eigentlich wollen. Mir ist nicht begreiflich, was sie wollen, denn was im Kaukasus geschieht, ist eine gigantische Zahl von Fehlern, des Nichtprofessionalismus, der Korruption, der Habsucht. Alles, was geschieht, ist die Folge der Inkompetenz der Macht oder die Trägheit, irgendwelche wirksamen Schritte zu unternehmen. Wie diese Macht auf den Islam reagieren kann? Wie üblich – mit dem Aufbau der Vertikale.

Das heißt, Sie sehen keine konsequente Position?

Nein. Sie wissen, es gab die Politik der Tschetschenisierung. Um irgendeine Linie der Beziehungen zum Islam herauszufinden, müsste man in die Gehirne jener Leute kriechen, die in Russland an der Macht sitzen und versuchen, eine solche Linie aufzubauen. Von außen betrachtet sind diese Gehirne, ich würde sagen, ziemlich unterentwickelt.